Wien ist wie keine andere europäische Hauptstadt. Zwischen Zuckerguß und Schlagoberst, von Sachertorte bis Kaiserschmarrn – eine ständige Versuchung. Schon der berühmte Naschmarkt trägt den kulinarischen Hedonismus im Namen. Neben dem Süßen lockt das Deftige, die Vielfalt der gutbürgerlichen Küche, hier ist sie zu Hause, hier fühlt sie sich wohl. Genau wie Radio-Eins-Pop-Cuisine-Foodie Johannes Paetzold, der – wann immer es die Zeit erlaubt – klimafreundlich mit dem Nachtzug von Berlin nach Wien reist und sich, von Freunden an die Hand genommen, zu exklusiven Geheimtipps der Einheimischen führen lässt
Milzschnitten und Scheiterhaufen
Das Kern Beisl liegt einen Knödelwurf vom Stephansplatz im ersten Bezirk, versteckt aber in der Kleeblattgasse. „Ich bin der Andy!“ begrüßt uns der Wirt, der das Gasthaus in Tradition seiner Großeltern und Eltern weiterführt. Auch vor Wien machen die Kettenrestaurants nicht Halt, auch die Beisl in Familienbetrieb sind auf dem Rückzug. Noch gibt es die Institution, Beisl steht für Wirtshaus, für bodenständige ehrliche Küche.
Die fängt mit einer selbstgekochten Rindssuppe an, man darf als Einlage zwischen Frittaten, Leberknödel oder Milzschnitte wählen. Natürlich Milzschnitte, wir sind in Österreich, herzhafte Innereien gehören dazu. Die Suppe, fast eine Consommé, klar, voller Stärke und Geschmack. Von Ofenbratel, Rindsgulasch über Steirer Risotto mit Kürbis für vegane Gaumenfreuden, hier schlägt das Herz der traditionellen österreichischen Küche. Der „Gemischter Satz“ kommt vom Wiener Weingut Christ. Andy Kern schlurft am Tisch vorbei, das Packerl mit altbackenene Semmeln unterm Arm, ein Gast hat sich für den Abend „Scheiterhaufen“ gewünscht, eine Variation von Arme Ritter als Mehlspeise mit Ei und Apfel. Wünsche stehen weit oben auf der Tageskarte.
Kern Beisl
Kleeblattgasse 4 / Ecke Tuchlauben, 1010 Wien,
Kalbsvögerl und Fledermäuse
Das Wolf ist eine Institution für das ganzheitliche Verwerten, hierzulande auch als „Nose to Tail“ ein Begriff. Wobei auch durchaus willige Allesverwerter aus dem Nachbarland hier wirklich auf Offenheit getestet werden. Es beginnt mit dem Kalbshirn mit Ei, dazu Petersilienkartoffeln, das Fleisch mit einer herzhaften Säure, dem Ei als weichem Gegenspiel, die Konsistenz muss man mögen. Hühnerleberparfait und Rindsmarkaufstrich gibt es als weitere Aufmacher. Und ein Kalbszüngerl mit Mango und Jungzwiebeln. Selbst einen Tafelspitz hat man hier von der Karte genommen, weil das Fleisch zu zäh, zu trocken schien. Dafür gibt es die verwandte Fledermaus, ein gebackenes Stück Schwein aus dem Kreuzbein. Man muss sich sprachkundig machen, die Kalbsvögerl sind Kalbshaxe, das Beuscherl ein Ragout aus Lunge und Innereien.
Das Wolf bringt Fine Dining und Bodenständigkeit zusammen, Küchenchef Jürgen Wolf eine Institution über Wien hinaus. Sein Kochbuch hat er im Eigenverlag ohne Kompromisse komponiert, eigenwillig genau wie seine Küche, keine Schnittkante zerstört die Fotos. Erhältlich ist es aus erster Hand im Gasthaus Wolf für 39,90 Euro, die Hauptgerichte bekommt man schon für knapp unter 20 Euro.
Gasthaus Wolf
Große Neugasse 20 / Ecke Rienößlgasse 17, 1040 Wien,
Staudenknöterich und Schafgarbe
In der Nähe vom Naschmarkt hat Gertrude Henzl ihren Laden. Eigentlich eine Juristin, die die Paragraphen für den aufmerksamen Gang durch die Natur vor knapp zehn Jahren aufgab. Die findet Henzl vielfach gerade in der Stadt. In Wiens Bezirken wachsen Giersch und Schafgarbe. Henzl nimmt die Menschen mit auf Kräuterwanderungen durch die Stadt. Sie leitet Seminare, aber vor allem sammelt sie, kocht ein. Die Ergebnisse gibt es eng gestellt auf den Regalen – Schafgarbenblütensirup, Fruchtmatten und Pestos. Selbst Waldgänger mit Sammelerfahrung betreten hier Neuland. Eine andere Art, Wien und Wald zu entdecken.
Henzls Ernte
Kettenbrückengasse 3/2, 1050 Wien,
Liwanzen und Blunzn
Das Restaurant liegt an der Nordpolgasse, aber der magnetische Punkt pulsiert im Herzen von Böhmen. An der Tür sollte eine Warnung für Menschen auf Diät angebracht werden: „Gehn’s weiter, hier gibt’s nix für Sie!“. Hinten angefangen beim Dessert: Palatschinken mit Mohn und Powidl, zigfach reduziertes eingekochtes Pflaumenmus, im Nordpol auch auf der Dessertkarte als Böhmische Liwanzen – Pfannkuchen aus Hefeteig, mit Rahm und Powidl. Wer es so weit schafft, der hat sich zuvor schon durch den Blunzn-Kranz gearbeitet – Blutwurst mit Erdäpfeln und Sauerkraut. Natürlich gibt es hier ein Wiener Schnitzel von der Kalbsschale.
Die Gerichte kosten im unteren zweistelligen Euro-Bereich, bezahlt wird nur bar. Das kann sich der Besitzer vom Nordpol, gebürtiger Tscheche, leisten, am Wochenanfang ist die geräumige, etwas ramponierte Stube schon voll. Überall hängen Gemälde, eine Mischung aus der wilden Malerei der 80er und den genialen Dilettanten, Künstler und Inhaber sind identisch. Böhmisch trifft Bohème.
Am Nordpol 3
Nordwestbahnstraße 17 / Ecke Nordpolgasse, 1020 Wien,
Brotbackatelier und Greißlerei
Barbara van Melle eröffnete vor zwei Jahren Wiens erstes Brotbackatelier. Mit Bäckermeister Simon Wöckl hatte sie schnell den passenden Partner, ein kleines Team leitet in Kruste & Krume die Backkurse. Die hatten selbst für das Team einen rasant schnellen Zuspruch. Ob Glutenthematik, Sauerteig, eigene Mischungen, selbst die verwöhnten Österreicher haben großen Nachholbedarf, aber ein großer Teil der Backlehrlinge kommt aus Deutschland, teilweise extra angereist.
Der Zuspruch ließ bald ein Geschäft gleich neben der Backschule entstehen, aber auch hier wird kein Brot verkauft, sondern Wissen und Zutaten. Van Melles erstes Kochbuch steht hier – inzwischen ein Bestseller – und seltene Mehlsorten von kleinen regionalen Mühlen. Wie sehr man hier einem Bedürfnis die passende Plattform verschafft hat, wurde beim ersten Brotfestival in Wien vor vier Jahren klar, mit einem Zulauf von 5000 Besuchern. Wer die hohe Kunst des Brotbackens näher kennen lernen will, muss nicht unbedingt nach Wien fahren, es gibt einen eigenen YouTube-Kanal, mit dienstäglichen Video-Updates.
Kruste & Krume
Brotbackatelier und Greißlerei, Heumühlgasse 3/1, 1040 Wien,