„Wo Fülle ist, kommt mehr Fülle“
Morgens um 10 Uhr. Bei einem ausgezeichneten Cappuccino im Vereinszimmer erklärt der erfolgreiche Schauspieler Daniel Christensen, was er alles vorhat und was er unter der Fülle des Lebens versteht. Nach dem Interview muss sich Daniel Christensen auf ein Casting für eine Netflix-Produktion vorbereiten. Am nächsten Tag fliegt er nach Portugal zu Dreharbeiten für die dritte Folge von Lost in Fuseta, einer portugiesischen Krimireihe. Berühmt ist er als Brillenträger Ignaz Flötzinger aus den Eberhofer-Krimis. Daniel Christensen genießt gutes Essen und Trinken; gemeinsam mit seinen Kolleg*innen veranstaltet er regelmäßig Kochsessions – mit dabei, Fotograf Dennis Grasse
Interview: Eva-Maria Hilker • Fotos: Dennis Grasse
Wie bereitet man sich auf ein Casting vor?
Daniel Christensen: Für das Netflix-Casting telefoniere ich zunächst mit der Regisseurin. Sie erklärt mir, wie sie sich die Rolle vorstellt. Ich schildere, wie ich die Figur sehe. Dann schauen wir, ob das zusammenpasst.
Wie frei kannst du deine Rolle während der Dreharbeiten entwickeln?
Einerseits bin ich weisungsgebunden, andererseits kann ich mich während des Drehs nicht selbst beobachten und beurteilen. Natürlich gibt es Möglichkeiten, gemeinsam etwas zu entwickeln. Die Regie gibt den Raum, um Dinge auszuprobieren. Ich kann auch eigene Vorschläge für meine Rolle einbringen – das kann zu einer gemeinsamen Entwicklung führen.

Während eines Drehs kommt niemand und sagt dir:
Das wäre auch gar nicht zielführend. Es ist künstlerisches Arbeiten, das bedeutet, wir begegnen uns alle auf Augenhöhe.
Klingt fast paradiesisch. Die Realität sieht doch nicht immer so aus ...
Es gibt Nervosität, weil Menschen unsicher werden. Manche Schauspieler*innen legen mehr Wert auf Wirkung, andere auf das Handwerk. Wieder andere meinen, es reiche schon, einfach nur das Gesicht in die Kamera zu halten. Es gibt viele Arten, diesen Beruf zu interpretieren.
Deshalb auch die Casting-Agenturen?
Die Kunst, ein Ensemble zusammenzustellen, wird oft unterschätzt. Ein guter Caster oder eine gute Casterin kennt alle Schauspieler*innen in Deutschland und kombiniert sie so, dass der Cast organisch wirkt.
Bei den Eberhofer-Krimis scheint das gelungen zu sein. Die Stammbesetzung – etwa zehn Figuren – ist von Anfang an dabei.
Eine so erfolgreiche Kinoreihe gab es in Deutschland noch nie.
Essen spielt dabei eine große Rolle.
Das steckt schon in den jeweiligen Titeln. Es gibt immer ein Gericht und einen Vorfall, die miteinander verwoben werden. Das ist kulturell sehr bayerisch oder alpenländisch geprägt.
(Zum Beispiel „Dampfnudelblues“ (2013), „Sauerkrautkoma“ (2018) oder „Rehragout-Rendezvous“ (2023).
Du bist seit 2013 als Brillenträger Ignaz Flötzinger dabei. Besteht da nicht die Gefahr, als stereotype Figur im Filmbusiness eingeordnet zu werden?
Ich bin als Schauspieler sehr breit aufgestellt. Das war mir immer wichtig und ist strategisch festgelegt – meine Agentin und ich wählen die Angebote entsprechend aus. Übermorgen fliege ich nach Portugal und spiele dort den portugiesischen Kommissar Carlos Esteves – auch hier gibt es einen kulinarischen Aspekt. Die Romane, auf denen die Krimi-Reihe basiert, sind zum Teil eine kulinarische Reise. Und diese Figur, die ich spiele, ist ein Genussmensch. Carlos trinkt ständig Wein und Bier, er raucht.
„Ich beschäftige mich viel mit dem Begriff Fülle im Leben. Es gibt einen Unterschied zwischen Fülle und Dingen wie Luxus, Prunk, Gier oder Völlerei.“

Man sagt, du seist privat ebenfalls ein Genussmensch, du lebst bzw. inszenierst eine gewisse Üppigkeit ...
Ich beschäftige mich viel mit dem Begriff Fülle im Leben. Es gibt einen Unterschied zwischen Fülle und Dingen wie Luxus, Prunk, Gier oder Völlerei. Es macht einen Unterschied, ob man den Reichtum des Lebens erkennt – auch philosophisch – oder ob man in suchthafte Maßlosigkeit abgleitet. Dieser Unterschied wird in unserer kapitalistischen und materialistischen Gesellschaft kaum gemacht, die Begriffe sind oft unklar. Für mich gilt: Wo Fülle ist, kommt mehr Fülle. Man muss sich nur die Natur anschauen: Sie ist verschwenderisch, nicht sparsam. Ein Apfelbaum bildet alle seine Blüten und Früchte aus, bis sich die Äste biegen. Oft wird das missverstanden. Vielleicht hängt das auch mit einer merkwürdigen Vorstellung von Moral zusammen, dass Menschen glauben, wer aus der Fülle heraus lebt, sei maßlos. Das ist aber nicht der Fall.
Aber Maßlosigkeit ist doch manchmal auch ganz schön? Einfach ungehemmt feiern, ohne an Grenzen, Social Media oder die öffentliche Meinung zu denken ...
Das stimmt. Aber ich würde das nicht Maßlosigkeit nennen. Mal feiern und – wenn du so willst – auch mal über die Stränge schlagen, empfinde ich nicht als Maßlosigkeit, sondern als Fest. Das Feiern ist ein wichtiger kultureller Aspekt. In der Philosophie werden zwei Begriffe unterschieden: Hedonismus und Eudaimonie. Hedonismus ist das Streben nach Sinnenlust und Genuss, die Lust zu erhöhen und Schmerzen zu vermeiden – platt gesagt: Ich will nicht fühlen, was ich fühle, also esse ich drei Schweinebraten und trinke fünf Bier. Nach dem eudaimonischen Prinzip hingegen erkennt man das Leben in seiner Fülle und prasst nicht nur.
(Aristoteles’ Ziel seiner ethischen Überlegungen war die „Eudaimonia“, das vollkommene Gute, das gute Leben, die Glückseligkeit, Anm. d. Red.)
Zurück zum Arbeitsalltag. Wir waren bei der Vermeidung von Typisierung und der Strategie der Rollenwahl.
Das musst du selbst steuern. Wenn ich in allen möglichen Filmen und Serien immer den bayerischen Blödelwicht spiele, werde ich irgendwann darauf festgelegt.

War dir von Anfang an klar, dass du Schauspieler werden willst?
Ich bin mit 16 auf die Schauspielschule gegangen und hatte dementsprechend gar nicht die Zeit, etwas anderes zu wollen. Im Grunde war es Zufall. Es gab einen rumänisch-jüdischen Professor, der in der Provinz eine große Schule aufbauen wollte – mit viel Platz und ohne die Ablenkungen einer Großstadt. Er gründete in einem kleinen bayerischen Städtchen namens Burghausen, in dem ich zufällig lebte, eine Schauspielschule in einer großen mittelalterlichen Burg. Ich bin da durch Zufall drauf gestoßen, weil plötzlich junge Leute herumspazierten, die ich nicht kannte. Ich habe einen angesprochen, der mir erklärte, dass er zum Vorsprechen für die Schauspielschule geht. Das wollte ich auch – und sie haben mich tatsächlich genommen.
Du hast dir ziemlich viel Freiheit genommen. Du hast eine Schreinerlehre abgebrochen ...
Freiheit war immer einer der wichtigsten Zustände für mich. Ich wollte früh aus Abhängigkeiten heraus. Meine Kindheit und Jugend in Bayern habe ich als ziemlich bedrückend empfunden – bis ich auf die Schauspielschule kam.
Du hast 25 Jahre lang sehr erfolgreich Theater gespielt – nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in Frankreich und Norwegen. Sprachlich nicht ganz einfach, oder?
Man lernt nicht alles, aber ein bisschen Affinität zur Sprache braucht man schon. Im Grunde genommen lernt man den Text.
Und warum bist du vom Theater weggegangen?
Corona hat mich und fast alle Freischaffenden rauskatapultiert. Wegen der Corona-Maßnahmen wurden die Theater geschlossen. Die festen Ensembles wurden zusammengehalten, aber Gäste nicht mehr eingeladen. Dann kam der Krieg. Die Kultursubventionen sind – wie so oft – gesunken oder zumindest durch die Teuerung faktisch zurückgegangen. Ich habe 2019 und 2020 noch bis Anfang März an drei Theatern gespielt, zum Beispiel an der Volksbühne. Seit genau fünf Jahren stehe ich nicht mehr auf der Bühne – das ist nicht freiwillig. Außerdem saßen die Leute während Corona zu Hause und die Streamingdienste hatten einen enormen Zulauf. Filme waren gefragt. Ich habe 2021 so viel gedreht wie nie zuvor: zwei Serien, zwei Kinofilme und einen Fernsehfilm in einem Jahr.
„Berlin schmeckt nach Fusion, nach Crossover. Die Konstante ist die permanente Veränderung – das ist das Schöne an Berlin.“
In dieser Zeit sind auch deine Kochsessions entstanden.
Auch wir waren zu Hause und haben angefangen, richtig zu kochen – und uns dabei, etwa auf Instagram, neu zu inszenieren. Unsere Koch-Affinität konnten wir so richtig ausleben.

Was heißt „wir“?
Es gibt eine Gruppe von Schauspieler*innen und Freund*innen, die wie ich eine Affinität zum Genuss haben. Aljoscha Stadelmann (Foto, bekannt als Frank Koops aus „Harter Brocken“, Anm. d. Red.) kann wahnsinnig gut kochen. Josh und ich waren lange zusammen im Ensemble am Schauspiel Frankfurt. Wir haben aber nicht nur gemeinsam gekocht, sondern auch mit Profi-Köchin Julia Leitner vom Sterne-Restaurant Coda. Wir werden immer besser.
Fortschritt, Neues ausprobieren, weiterkommen – das gehört, wenn man deinen Lebenslauf betrachtet, zu deinem Lebensprinzip. Du hattest zwei Möbelläden in Berlin für modernes und antikes Industriedesign.
Das ging irgendwann nicht mehr. Das ließ sich mit dem Schauspielberuf nicht mehr vereinbaren. Es war einfach keine Zeit mehr dafür.
Du hast aber noch Zeit gefunden, Biomechanik zu studieren. Viele denken dabei an eine Naturwissenschaft.
Biomechanik ist eine alte russische Theatertradition, entwickelt von Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold. Man lernt, aus dem Stegreif und aus Emotionen heraus zu spielen – es ist eine Form des Körpertheaters. In Berlin habe ich bei Gennadij Bogdanow, einer Koryphäe des Theaters, gelernt.
Eine Frage zum Abschluss: Wie schmeckt Berlin?
Berlin schmeckt nach Fusion, nach Crossover. Die Konstante ist die permanente Veränderung – das ist das Schöne an Berlin. „Flying Food“ fällt mir dazu ein. Das Flüchtige spielt eine Rolle: Nicht umsonst ist Berlin berühmt für Döner und Currywurst. Das ist alles auf die Hand.
Daniel Christensen