Fotos: Kira Möller Aufmacher Holger Schwarz
Holger Schwarz

„Die Weinwelt sieht heute anders aus“

Er hat in Berlin den Naturwein, den Orange Wine, den Pet Nat durchgesetzt. Holger Schwarz hat einer jüngeren Generation zu neuem Weingenuss verholfen und den nachhaltigen Lebensstil mit lanciert. Viele titulieren ihn als Pionier. Eva-Maria Hilker hat ihn in seinem Weinladen Viniculture getroffen und ihm darüber gesprochen, was ihn bewegt hat und heute vorantreibt

Du hast es geschafft, dass in Berlin Naturwein fast als Selbstverständlichkeit gilt. Die meisten jungen Gastronom*innen waren bei dir, um sich die neuesten Trends abzuholen.
Holger Schwarz: Ganz so war es nicht. Als ich den Betrieb 2006 übernommen hatte, war ich schon zehn Jahre im Weingeschäft involviert. Dann bekam ich die Chance, Viniculture zu übernehmen. In der Zeit war Deutschland als Weinland erfolgreich und von den anderen Weinhändlern gut vertreten. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt das auch gemacht hätte, hätte mir das nicht genug Aufmerksamkeit gegeben. Ich wollte etwas machen, was auffällt, also Produkte vertreten, die auch Reibung erzeugen und eine gewisse Strahlkraft haben.

Hast du bewusst nach Alternativen gesucht?
Ich war bei einer Weinprobe. Ich probierte einen nicht geschwefelten Naturwein aus Spanien. Der hat in mir ein Feuer entfacht, von dem ich damals nicht genau wusste, ob es lang anhaltend, ergiebig genug ist. Es war ein Bauchgefühl und Intuition und etwas, was ich anfangs gar nicht richtig verstanden habe. Es ging also weit über die Grenzen dessen hinaus, was ich schon kennengelernt habe, und auch über das hinaus, was ich schon als zuverlässig gut einschätzen konnte. Aber ich hab etwas bemerkt, das mich weiter daran hat festhalten lassen. So kam es dann, dass ich mehr und mehr Naturweine probiert und angefangen habe, die hier im Laden zu verkaufen.

Dann auch sehr erfolgreich …
Das stimmt so nicht. Es war erst so, dass die Flaschen zu einem guten Teil zurückkamen mit den Kommentaren: Der ist trüb, der ist zu dunkel, der riecht nach Kohl oder Erbrochenem, was auch immer. Das hat mich aber nur noch mehr angespornt, weiterzumachen. Meine Faszination ist mir geblieben. Ich habe mir gesagt, dass es der Anfang einer Entwicklung ist und ich dabei bin.


„Es freut mich, dass dieser Trend sich durchgesetzt hat und diese Weine eine Wertschätzung erfahren, sodass die Winzer davon gut leben können.“

Ab wann warst du dir sicher, dass es sich bei Naturwein nicht nur um ein zeitlich begrenztes Phänomen handelt?
Das habe ich lange nicht genau gewusst. Deswegen habe ich das Sortiment langsam aufgebaut. Ich hatte immer noch ein stabiles, konservatives Sortiment im Hintergrund. Ich habe gemerkt, dass meine neuen riskanten Weine durchaus Anklang fanden, nicht flächendeckend, nicht bei jedem, aber bei dem einen oder anderen. Viel wichtiger als der Erfolg war die Provokation.
Es gab Leute, bekannte Leute, sogar bio- und biodynamische Winzer, die eine sehr deutliche Ablehnung gezeigt haben. Das hat mich gewundert, die Naturweine sind doch eigentlich bio und biodynamisch, und die müssten das doch mögen. Später wurde mir klar, dass die Winzer nicht aus ihrer Komfortzone raus wollten. Sie hatten Erfolg mit ihrem Bio-Zertifikat, mit ihrem Demeter-Label.
Die Hürde zu nehmen, nun den Schwefel wegzulassen oder stark einzuschränken, war ihnen wohl zu riskant. Sie waren eher konservativ, was den Wein, Geschmack und die Auffälligkeit angeht. Das habe ich mit den revolutionären Naturweinen überschritten, diese Grenze, die sie für sich auch in ihrer wirtschaftlichen Sicherheit behalten wollten.

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Was hat dich dazu verleitet, weiterhin ins Risiko zu gehen? Der bequemere Weg mit deiner Kompetenz hätte doch auch der Einkauf für eine große Weinfirma sein können?
Für mich ist diese Auffälligkeit die Triebfeder, die durch Konfrontation entsteht. Ich brauche diese Aufmerksamkeit und Anerkennung. Das Monetäre war für mich nicht so wichtig.

Heute gibt es kaum eine Weinbar oder ein angesagtes Restaurant, die keinen Naturwein auf der Karte listen. Wie geht es dir dabei?
Es freut mich, dass dieser Trend sich durchgesetzt hat und diese Weine eine Wertschätzung erfahren, sodass die Winzer davon gut leben können. Die Weinwelt sieht heute anders aus. Früher gab es die Kundschaft, die Fehler gesucht haben. Heute sind die Weine sauberer geworden, das Wissen von der Weinbereitung hat sich nochmal verändert, Fehltöne sind weniger geworden. Und auf der anderen Seite ist die Akzeptanz anderer Geschmäcker gestiegen. Wenn in einem Sterne-Restaurant oder in angesehenen Restaurants Naturwein auf der Karte steht, ist das der Beweis der Güte. Die Anerkennung von außen ist wichtig. Dann kann der Kunde oder die Kundin den Wein auch selbst einkaufen und ausschenken, da der ja auch von Restaurants ausgeschenkt wird.

Also setzt sich Innovation erst über das Image durch und wird dann zum Trend?
Wenn allgemein anerkannte Adressen diesen Wein präsentieren, dann stellt sich der Geschmack der Käuferschaft darauf ein, nicht umgekehrt. Man denkt immer, der Geschmack entwickelt sich. Es ist eher die Anerkennung, die in unserem gehobenen Bereich funktioniert. Es ist viel mehr als der Geschmack, es ist eine Haltung, es ist eine Gruppenzugehörigkeit.


„Naturwein ist ein sauberes Produkt, es hat wenig oder keine Konservierungsstoffe. Es sieht natürlich aus, es schmeckt natürlich, es suggeriert zeitgemäßes Leben.“

Es ist auch eine Generationsfrage. Naturweinkonsum setzt sich von der konservativen Elterngeneration ab. Die jüngere konsumiert auch mit dem Nachhaltigkeitsdenken.
Richtig. Naturwein ist ein sauberes Produkt, es hat wenig oder keine Konservierungsstoffe. Es sieht natürlich aus, es schmeckt natürlich, es suggeriert zeitgemäßes Leben.

Zwar haben auch große Weinproduzenten den Trend erkannt und bieten auch etwas in dieser Nische an, aber zum Mainstream gehört Naturwein noch lange nicht?
Die größeren Betriebe bedienen einen Großteil des Marktes. Da muss eben der Valdobbiadene Prosecco jedes Jahr gleich schmecken. Das ist Aufgabe des Kellermeisters. Das suggeriert Zuverlässigkeit. Wenn du heute in die Discounter gehst, wirst du zu 98 Prozent glattgebügelte Weine finden.

Es ist und bleibt auch eine Kostenfrage?
Bei uns kosten die meisten Weine mehr als 10 oder 12 Euro. Im Discounter findest du Weine schon für 2,70 Euro pro Flasche. Da liegen wir weit drüber. Meine Kundschaft kann man schon als Randgruppe bezeichnen. Es ist ein kleiner Teil der Gesamtbevölkerung, der Naturwein trinkt.


„Wir bemerken relativ schnell, wenn sich ein neues Thema auftut. Grundlage war ähnlich wie beim Naturwein auch die eigene Liebe zum Produkt.“

Das hält dich nicht davon ab, schon wieder etwas Neues zu suchen und du hast es mit den sogenannten Proxies gefunden.
Wir wollen im Viniculture weiterhin Pioniere bleiben. Wir bemerken relativ schnell, wenn sich ein neues Thema auftut. Grundlage war ähnlich wie beim Naturwein auch die eigene Liebe zum Produkt. Meine temporäre Abstinenz hat mich wieder zu etwas Neuem geführt. In dieser Zeit habe ich mich umgeguckt, auch fleißig probiert und habe einiges für interessant befunden – auch für unsere Kund*innen, wenn sie mal keinen Alkohol trinken.

Du hast entalkoholisierte Weine getrunken?
Ich wollte das Beste herausfinden. Und je mehr ich mich damit beschäftigt und immer mehr entalkoholisierte Weine getestet habe, bin ich letztendlich darauf gekommen, dass die besten nicht alkoholischen Alternativen mit wenig oder ohne Alkohol eben nicht aus Trauben sind, sondern auf anderer Basis hergestellt werden.

Eine nicht alkoholische Menü-Begleitung gibt es schon seit geraumer Zeit.
Das klappt mal mehr, mal weniger. Ich habe letztens in einem Zwei-Sterne-Restaurant eine Saft-Begleitung gehabt. Das war anstrengend, es ist auch zu sättigend. Ich finde das interessant, das in eine Weinbegleitung einzubauen, als Unterbrechung und auch zur Herabsetzung des Gesamt-Alkoholpegels des Abends.

Nur noch mal zur Begriffsdefinition. Was heißt denn Proxy im Getränkebereich? In der digitalen Welt steht der Begriff für Vermittler von Netzwerken.
Es ist sowas wie eine Stellvertretung. Es geht nicht darum, etwas zu ersetzen wie bei alkoholfreiem Wein und Sekt. Sie schmecken mir persönlich zu süß, zu sauer und erinnern immer an das Original. Und bleiben doch eine schlechte Kopie. Deswegen finde ich eine andere Bearbeitung interessant.

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Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Proxies Getränke, die mit der Weinherstellung nichts zu tun haben?
Es sind Mischformen. Die Zutaten sind Früchte und Kräuter, zum Beispiel grüne Stachelbeeren mit Fichtennadeln oder Mirabellen-Blüten. Es sind eher Rezepturen aus der Küche. Es ist eher mit der Arbeit von Köch*innen als mit Winzer*innen zu vergleichen. Es geht um die Zusammenführung verschiedener Geschmacks­komponenten, um einen raffinierten, unaufdringlichen Geschmack, um die richtige Mischung.

Wir trinken gerade den Yamilé von Muri. Das ist ein Getränk mit abenteuerlichen Zutaten: kohlensäurehaltiger Himbeer-Stachelbeer-Met mit geräuchertem lakto-fermentiertem Rhabarber, Goldrute und rosa Pfefferkefir.
Das ist eine Firma aus Kopenhagen, 2020 gegründet von Murray Paterson. Er kommt ursprünglich aus Großbritannien, hat bei „Empirical Spirits“ Schnaps gebrannt und sich dann den nicht-alkoholischen Drinks zugewandt. Loakeim Goulidis kam nach einiger Zeit vom „Noma Fermentationslabor“ dazu. Sie haben lange probiert, bis dann das erste Produkt vor ein paar Jahren auf den Markt kam. Und wir waren einer der Ersten in Deutschland, die das ernst genommen haben. Ich sehe da ein Riesenpotenzial.

Es ist wieder ein Getränk, das mit nichts zu vergleichen ist. Man muss sich darauf einlassen, auf eine neue Erfahrung, ähnlich wie beim Naturwein.
Das ist das Schöne, wenn du ein ganz anderes Produkt hast, weg von den Trauben. Du bist nicht mehr ein Kopist wie beim alkoholfreien Wein. Es ist kein kastriertes Produkt. Es ist viel interessanter, einen ganz neuen Bereich zu wählen und dort eine Eigenständigkeit zu kreieren. Es geht darum, ein ähnliches Gefühl zu erzeugen. Diese emotionale Ebene ist viel interessanter als die rein geschmackliche.

Viniculture
Grolmanstraße 44/45, Charlottenburg, Tel. 030 883 81 74, www.viniculture.de,
Mo-Fr 12-19 Uhr, Sa 11-19 Uhr