Fotos: Selina Schrader Manuela Rehn Aufmacher
Manuela Rehn

„Regionale, saisonale Küche haben unsere Großeltern per se gekocht“

Sie hat altes Koch-Wissen ausgegraben. Gemeinsam mit anderen Autoren, Fotografen und Köchen ist Manuela Rehn durch Deutschland gereist und hat Senioren besucht. Gefunden hat sie in den verschiedenen Regionen in Vergessenheit geratene Rezepte und ältere Damen und Herren, die sich gut an verschiedene Gerichte erinnern konnten und die sie gemeinsam zubereitet haben. Dabei entstanden ist ein großartiges Buch

Interview: Eva-Maria Hilker • Fotos: Selina Schrader

Mit dem Buch „Wir haben einfach gekocht“ habt ihr 2015 einfach mal angefangen.
Manuela Rehn: Ja, und wir hatten schon damals eine Mission, die hinter dem Buchprojekt stand. Und gerade jetzt ist das Thema, nämlich an unser kulinarisches Erbe zu erinnern, aktueller denn je. Es soll eine andere Gemeinschaftsverpflegung etabliert werden, es kommt zu einer politisch gewollten Ernährungswende. Das wollen wir auch in die Seniorenheime bringen. Das ist unsere politische Absicht, die dahintersteckt. Und das Buch dient als Vehikel, um ein so sehr trockenes Thema, das meist ja auch mit erhobenem Zeigefinger und sehr traurigem Hintergrund daherkommt, sinnvoll und angenehm zu verpacken und die Leserinnen und Leser emotional anzusprechen.

Geht es konkret darum, die Qualität des alltäglichen Essens aufzuwerten und das Augenmerk darauf zu lenken?
Total. Es sind sozusagen zwei Zugänge. Der eine Zugang ist der, der es auch im ersten Buch schon war. Wir haben festgestellt, was ja jetzt auch aktueller denn je ist, dass diese Neue-Deutsche-Küche-Bewegung und die Suche nach einer Identität und einer eigenen Handschrift ganz stark mit einer Herkunft, der Tradition von früher verbunden ist. Wir haben 2015 schon gemerkt, dass in der Gastronomie und auch bei der jungen Generation, die sich für Essen interessiert, etwas in Bewegung kommt.


„Wir haben natürlich auch in unserer Esskultur einen großen internationalen Einfluss, aber was ist denn die deutsche Küche ursprünglich gewesen?“

In den Zeiten der neuen deutschen Küche, wie sind die Traditionen darin verhaftet?
Wir sind auf Spurensuche. Was heißt denn wirklich Identität? Wir haben natürlich auch in unserer Esskultur einen großen internationalen Einfluss, aber was ist denn die deutsche Küche ursprünglich gewesen? Man denkt immer, dazu fällt einem nichts ein – oder gerade auch in Berlin nur wenig – aber das ist nicht der Fall.

Es wird immer behauptet, dass das arme Berlin nie eine gute Esskultur hatte.
Na, das arme Berlin ist auch immer gebeutelt worden von irgendwelchen Katastrophen und war immer im Wandel. Es konnte sich nie etwas etablieren wie eine süddeutsche Küche, die schon vor Hunderten von Jahren stark verankert war und immer noch ist. In Berlin ist vieles durch die Dinge, die passiert sind, vergessen worden. Nichtsdestotrotz gab es ja eine Kulinarik.

Das beweist euer aktuelles Buch ...
Genau, das heißt „Unser kulinarisches Erbe“. Um mal ein bisschen polemisch zu sein und auch die Leute ein bisschen mehr abzuholen. „Wir haben einfach gekocht“ war damals so ein Augenzwinkern. Aber es ist ein schwieriger Buchtitel, wenn du es so auf dem Tisch liegen hast. Und bei „Unser kulinarisches Erbe“ schwingt schon mit, dass wir die neue deutsche Küche abholen wollen. Der Unterschied zum ersten Buch ist zudem, dass wir bei der Reise durch die verschiedenen Regionen immer jeweils einen Spitzenkoch mitgenommen haben, der aktuell genau für diese neue deutsche Küche steht. Das ist in Berlin Michael Schäfer von Nobelhart & Schmutzig gewesen, der war mit uns in einer berliner Einrichtung.

Berlin, die Stadt, von der immer behauptet wird, da gibt’s nichts.
Da haben wir die Funzelsuppe gekocht. Ich weiß nicht, ob du die schon mal gehört hast?

Nein, noch nie in meinem Leben!
Ich auch nicht, ich glaube, wir alle noch nicht. Und selbst Google hatte das noch nie gehört. Denn wir haben immer parallel versucht zu recherchieren, weil die Leute meistens nicht die genauen Rezepte im Kopf haben. Das muss man immer ein bisschen anstoßen. Und bei der Funzelsuppe kam immer nur einstimmig bei älteren Damen, dass sie die kennen. Das war ein Gericht aus Kriegszeiten.


„Die Idee hinter der Funzelsuppe ist eher eine unspektakuläre oder unkulinarische, weil man im Krieg mit wenig auskommen musste.“

Eine Funzel ist doch so etwas wie eine Lichtquelle!
Die Funzel steht übertragen für schwaches Licht, also eine Lampe, die nur sehr wenig Licht spendet. Und so wurde damals versucht, eine Suppe nur mit einer einzigen Kartoffel zu kochen, die trotzdem gehaltvoll ist. Dafür wurde eine einzige Kartoffel in heißes Wasser gerieben, mit Salz abgeschmeckt und was sonst noch verfügbar war, um wenigstens ein bisschen was im Mund zu haben. Die Idee hinter der Funzelsuppe ist eher eine unspektakuläre oder unkulinarische, weil man im Krieg mit wenig auskommen musste. Das ist eigentlich nicht unbedingt etwas, wo man denken würde, das haben wir vermisst und auch die alten Damen haben das daher nicht als ihr Lieblingsgericht bezeichnet. Aber für uns war es natürlich sehr relevant, weil das eine Historie, einen geschichtlichen Bezug besitzt. Micha Schäfer fand das aufregend und hat sie adaptiert mit dem, was heutzutage verfügbar ist. Er hat halt aus dieser Funzelsuppe in karg eine Funzelsuppe in lecker gemacht. Er hat mit viel Petersilie gearbeitet und auch nicht nur mit einer Brühe basierend auf Wasser und Kartoffeln, sondern mit einer gehaltvollen Gemüsebrühe gekocht, mit viel Geschmack. Das Gericht ist dadurch richtig gut geworden. Das Rezept ist jetzt im Buch zu finden mit der ursprünglichen Idee, dass sie damals aus der Not heraus geboren war und fast vergessen wurde.

Wie sucht ihr die Altenheime oder alten Herrschaften aus? Habt ihr eine Liste oder wie recherchiert ihr die Residenzen?
Das war damals 2015 schon gesteuert durch Transgourmet, die sozusagen die Ermöglicher dieses Projektes sind. Der Hintergrund vom ganzen Buch ist, dass wir als Grüne Köpfe – das ist unsere Beratungsfirma, die wir hier neben unserem Laden „Vom Einfachen das Gute“ haben – beim Thema Nachhaltigkeit speziell im Lebensmittelmarkt beraten und unter anderem eben Transgourmet seit vielen Jahren bei einer Nachhaltigkeitsstrategie begleiten. Da gehört zum Beispiel die Marke Ursprung mit ihrem Käse dazu.

Manuela Rehn 1

Ursprung bedeutet, dass man die Macher hinter dem Produkt erkennt?
Genau. Das sind Charakterköpfe, die hinter ihren Produkten stehen und ihre Geschichten dazu erzählen können, die bis zum Tischgast durchdringen. Das ist vielleicht bei Nobelhart & Schmutzig gang und gäbe, aber dem normalen Gastronomen fehlen so ein bisschen die Hintergründe.

Transgourmet ist ein Lebensmittelhändler für die Gastronomie und Gemeinschaftsküchen.
Ja. 2015 haben wir mit Transgourmet zusammengesessen. Sie baten uns, denkt euch doch mal eine Idee aus, wie wir uns dieses Jahr gesellschaftlich engagieren können. Das war ein sehr schöner Auftrag. Darüber sind wir auf diese Idee gekommen, beides zusammenzudenken. Nämlich zum einen, dass sie Transgourmet Seniorenheime mit Lebensmitteln, also Rohware, beliefert und die Küchen als Kunden hat. Zum anderen aber, dass Essen dort immer mehr zum Kostenfaktor geworden ist, also die Küche gar nicht mehr die Wertschätzung erfährt, die sie haben sollte. Wie man das in der öffentlichen Wahrnehmung steigern kann, war mehr oder weniger unser Auftrag und die Idee, wie man es in schön umsetzen kann.

Das heißt, die Seniorenheime sind Kunden von Transgourmet und wurden angesprochen, ob sie Lust haben mitzumachen?
Sie kannten ja das erste Buch und waren alle begeistert.

Ihr seid dann von Ort zu Ort gefahren oder habt ihr die Damen und Herren in eine Küche geholt?
Nein, wir sind wirklich von Region zu Region gefahren. Also Berlin, Hamburg, Hannover, Bremen, München, Tübingen usw.

Wie lange habt ihr gebraucht?
Wir waren zwei Tage an jeder Station. Wir waren den ganzen Sommer unterwegs. Bei 35 Grad Hitze, das war verrückt.

Wie habt ihr die Köche gefunden?
Die haben wir einfach angesprochen. Wir kannten natürlich über den Laden und unsere gesamte Vernetzung viele der Köche. Zudem hatten wir uns vorher überlegt: Wer steht da momentan für diese Art von Kochen und wer kommt aus welcher Region?

Das war bestimmt nicht einfach. Habt ihr auch Köchinnen dabei?
Na klar. Lisa Angermann aus Leipzig und die Julia Komp aus Köln. Aber es war tatsächlich schwer, Frauen zu finden. Wir hatten eigentlich vor das halbe-halbe zu machen, aber das war schlicht unmöglich. Wir haben nicht genügend Frauen zusammen bekommen, was zeigt, dass die Gastronomie doch noch zum größten Teil eine Männerdomäne ist. Was wiederum unseren Erlebnissen von der Buchreise widerspricht. Denn früher haben vor allem die Frauen gekocht.


„Alle waren leidenschaftlich beim Kochen dabei, aber sie hatten keine Vorstellung davon, dass das wirklich ein Buch wird.“

Auf wie viel Tradition habt ihr geblickt, also wie alt waren die Damen und Herren ungefähr? Es war ja diesmal sogar ein Herr dabei.
Mehrere Herren. Beim letzten Mal war es nur ein Einziger, ein Metzger, nur deswegen hat er sich wahrscheinlich getraut mitzumachen, weil er was erzählen konnte. Die anderen sitzen oft nur vor ihrem Teller und essen was. Diesmal hatten wir in fast jeder Station ein oder zwei Herren dabei. Und altersmäßig: Die älteste Dame ist 100 Jahre alt geworden, als wir da waren. Das war in Hannover. Sie war ganz engagiert dabei. Wir haben ihr dann zum Geburtstag die ersten Fotos überreicht und sie war hin und weg, sie konnte es kaum glauben. Alle waren leidenschaftlich beim Kochen dabei, aber sie hatten keine Vorstellung davon, dass das wirklich ein Buch wird.

Was hast du für einen Eindruck von den Seniorenresidenzen? War das für sie eine Ausnahmesituation, als ihr da wart?
Ja, schon, natürlich. Weil wir auch ganz unbekümmert da rangegangen sind. Und nicht routiniert wie die Ergotherapeuten oder Pfleger, die tagtäglich mit den Bewohnern zu tun haben und welche auch die ganzen Gebrechen kennen und dann darauf meistens Rücksicht nehmen. Wir kannten nicht die persönlichen Geschichten im Vorfeld. Deswegen haben wir eigentlich alle mit der gleichen Motivation und Enthusiasmus angesprochen und irgendwie haben sie dann alle mitgemacht, auch wenn sie Wehwehchen hatten. Das haben sie dann vergessen.

Wie sah das denn konkret aus?
Wir waren am ersten Tag zum Kaffeetrinken und Kuchenessen, um uns kennenzulernen. Wir haben dann einfach ein bisschen erzählt, was wir so machen mit dem Buch und wieso wir das sammeln. Dann haben wir schon die ersten Rezepte bekommen. Die Herrschaften sprudelten ja dann ihre Ideen heraus.

Kommen alle Rezepte von den Senioren oder habt ihr welche im Vorfeld recherchiert?
Dies war unter anderem unser Wunsch an die Köche. Sie haben sich im Vorfeld schon ein paar Gedanken gemacht, was für die Region typisch ist. Wir hatten pro Station immer eine Spitzenköchin oder einen Spitzenkoch dabei. Und alle kamen jeweils aus der entsprechenden Gegend und hatten selbst einen persönlichen Hintergrund und konnten dann auch spezieller nachhaken. Andreas Rieger hat uns aber generell bei allen Stationen begleitet, als Koch mit dem umfangreichsten Rezeptewissen und einem überwältigenden Detailgedächtnis. Er hatte im Vorfeld bereits Rezepte recherchiert, zu deren Erinnerungen wir bei den Senioren nachfragten. Wir wollten auch die Geschichten dahinter hören, wieso das gerade in der jeweiligen Region so verankert ist, mit genau diesen Zutaten. Wir wollten wissen, wie speziell anders die Gerichte zubereitet wurden im Vergleich zur Region nebenan, wo man es wieder ganz anders kennt.

Haben sich dann Teams gebildet oder wie ging es dann weiter?
Wir haben dann alle zusammen am nächsten Tag gekocht. Am ersten Tag haben wir nach dem Kaffeetrinken aus all den gesammelten Sachen drei Rezepte gemeinsam beschlossen, die wir als Menü kochen wollten, also Vorspeise, Hauptspeise und Dessert. Dann waren wir vor Ort meistens einkaufen und sind am nächsten Tag morgens mit den ganzen Zutaten wiedergekommen. Und haben angefangen, zusammen zu schnippeln, zu schälen und weiter zu schnacken.


„Das war auch ein tolles Erlebnis, weil es nämlich zeigt, wie vielschichtig Genuss ist und wie wichtig es ist, dass alle Sinnesebenen aktiviert werden – gerade auch im Alter.“

FHabt ihr für die ganze Einrichtung gekocht?
Nein, nur für die Gruppe. Obwohl natürlich immer ganz viele vorbeikamen und sich gewünscht hätten mitzuessen, weil der Geruch durchs ganze Haus strömte. Das war auch ein tolles Erlebnis, weil es nämlich zeigt, wie vielschichtig Genuss ist und wie wichtig es ist, dass alle Sinnesebenen aktiviert werden – gerade auch im Alter. Denn Essen, also eine sinnliche Erfahrung und der Genuss, fängt schon viel früher an und nicht erst, wenn du vor deinem Teller sitzt. Das ist das Wichtigste für viele. Wir haben gesehen, dass die Realität meistens neben uns eine andere war und ist. Das muss man so sagen, ohne es schlecht machen zu wollen, es ist einfach so.

Ihr wollt ja nichts beschönigen.
Genau. Es ist unser Anliegen, dass erkannt wird, wie viel mehr Image eigentlich so eine Küche haben kann. Auch nach außen. Für die Seniorenheime und auch für das Wohl der Senioren selbst. Genuss im Alter darf doch nicht nur aus Nährwerttabellen bestehen, das muss doch mehr sein. Wir haben also zusammen die Sachen vorbereitet. Andreas hat mit dem Koch, der für die Station mit dabei war, gekocht. Und die Senioren haben auch immer mal im Topf gerührt und mitgemacht, soweit sie konnten. Das war schön zu sehen, weil natürlich nicht mehr jeder motorisch dazu in der Lage war, aber alle ihr Bestes gegeben haben. Selbst wenn jemand nur noch eine Hand hatte, dann wurde gemeinschaftlich die Kartoffel gehalten und einer hat sie geschnitten. Es war sehr schön zu erfahren, wie einfach das sein kann, die Leute glücklich zu machen.

Wie viele Leute sind in so einem Heim untergebracht?
Ganz unterschiedlich. Wir waren in Residenzen, da waren es nur 40 Bewohner. Da wurde dann auch wirklich in den einzelnen Wohngruppenküchen von der Hauswirtschaftsleitung gekocht. Es ist also auch tatsächlich möglich. Wir waren aber auch in Küchen, wo das so nicht ist. Wo die Leute von der Zentralküche aus beliefert wurden. Oder wo im Haus eine Zentralküche ist, die für 300 Bewohner kocht und für den Kindergarten nebenan. Da muss man natürlich sehen, wie man das hinkriegt, dass alles zum gleichen Zeitpunkt auf dem Tisch ist und es allen irgendwie schmeckt.


„Ich kannte rund 80 Prozent aller Rezepte überhaupt nicht. Es ist alles stark regional verankert gewesen.“

Danach habt ihr dann also zusammen gegessen. Funzelsuppe zum Beispiel. Gab es noch weitere unbekannte Überraschungen?
Ich kannte rund 80 Prozent aller Rezepte überhaupt nicht. Es ist alles stark regional verankert gewesen. Hast du schon mal was von Böfflamott gehört? Oder Ingreisch? Das war das abenteuerlichste überhaupt.

Was ist das denn bitte?
Böfflamott ist im Prinzip der Vorläufer vom bayerischen Sauerbraten. Aber mit viel, viel mehr Zeitaufwand. Und sie haben damals meistens Ochsenschwanz dazu genommen und haben den über mehrere Tage eingelegt, nicht nur für ein paar Stunden. Und der Name kommt verrückterweise, das wusste ich auch nicht, vom eingebayerischten Bœuf à la mode – Rindfleisch nach Art der Mode. Aber das ist alles mit der schnellen Küche verschwunden. Wenn die Leute heute ihren Sauerbraten machen, wählen sie eher die schnelle Variante. Und Ingreisch ist in Franken die Ganztierverwertung vom Karpfen. Das sind nämlich die Geschlechtsteile vom Karpfen.

Himmel, was es alles gibt!
Das sind die panierten Milchner vom Karpfen. Die werden zum Karpfen als Vorspeise gegessen mit fränkischem Kopfsalat.

Wie schmeckt denn das?
Sehr lecker! Ich muss sagen, es hat mich schon Überwindung gekostet. Sonst würde ich ja sagen, ich esse alles, aber das war schon speziell, so als Frau die Hoden vom Karpfen zu essen. Aber es war okay. Das haben wir paniert in einem Backteig und ausgebraten. Das schmeckt echt sehr gut und wird traditionell im Gasthaus einfach dazu gegessen, bevor der Karpfen kommt.

Das ist also eine fränkische Spezialität?
Ja. Und in diesem Seniorenheim in Nürnberg – das fand ich total schön – bereiten sie dieses Gericht jedes Jahr zu. Es ist also nicht so, dass wir das nur für das Kochbuch auf dem Tisch hatten. Der Koch dort ist so engagiert, dass er sich von seinem Züchter auch immer noch die ganzen Innereien mitliefern lässt.

Hast du das Gefühl, dass sich die Generation, die aus der Not heraus nachhaltig gekocht hat und die junge Generation jetzt, die das bewusst tut, annähern?
Unbewusst. Nicht, dass sie das selbst so sagen oder wissen würde. Aber das ist auch unser Anliegen: Mit dem Buch die Wertschätzung der Produkte und das Wissen der Generationen zusammenzubringen. Denn genau so ist es ja. Regionale, saisonale Küche haben unsere Großeltern einfach per se gekocht. Sie haben auch weniger Fleisch gegessen, weil es jeden Tag nicht leistbar war.


„Dadurch, dass alles nur ein Mausklick entfernt ist und jede exotische Zutat überall verfügbar ist, ist das Einfache wieder besonders geworden.“

Bestimmte Sachen wie Graupen zum Beispiel fand ich persönlich früher immer ganz gruselig. Aber erst vor Kurzem habe ich ein köstliches Graupenrisotto gegessen.
Die älteren Damen fanden Graupen auch gruselig. Aber dadurch, dass alles nur ein Mausklick entfernt ist und jede exotische Zutat überall verfügbar ist, ist das Einfache wieder besonders geworden. Da ist eine tiefe Sehnsucht nach Lebensmitteln, durch die wir wieder eine Bodenständigkeit fühlen im Essen.

Die Attitüde zum Arme-Leute-Essen hat sich komplett gewandelt. Der bewusste Umgang mit Ressourcen ist hip geworden.
Ja. Und wenn wir es ernst meinen mit Klimawandel und Regionalität, dann muss man ja genau da anfangen. In der Region schauen, wie haben wir es denn früher gemacht? Was wächst denn hier ursprünglich?

Ist den Senioren bewusst, was sie an Wissen weiterzugeben haben?
Christoph Hauser von Herz & Niere war mit in Münster. Er engagiert sich sehr für die Verarbeitung des ganzen Tieres. Er wollte wissen, was so an Ganztiergeschichten früher gemacht wurden. Da bekam er zur Antwort, dass das doch heute sowieso niemand mehr wissen will. Christoph insistierte, indem er erklärte, dass wir doch genau aus diesem Grund hier in Münster seien. Dann haben sie es irgendwann verstanden und waren superstolz und glücklich darüber, erzählen zu können, wie sie es früher gemacht haben.

Die ältere Generation ist durch das digitale Raster gefallen. Sie sitzen in irgendwelchen Heimen und das handwerkliche Wissen verkümmert. Und ihr kitzelt dieses Wissen wieder heraus.
Genau. Wir arbeiten gegen das Vergessen dieser Generation und deren Wissen und Erfahrungsschätze.

Ist das neue Kochbuch für Fachleute, die in der neuen deutschen Küche aktiv sind oder sind das Rezepte, die jede und jeder nachkochen kann?
Die Rezepte kann jeder nachkochen. Da, wo eine Erklärung benötigt wurde, haben wir sie dazu gegeben. Aber alles ist nachkochbar. Das war auch der Anspruch. Hier muss ich den Hut vor Andreas ziehen. Er hat es geschafft, alles für uns nicht so intuitive Köche – wie die Damen und Herren es ja teilweise waren (lacht) – zu übersetzen in Grammaturen und genaue Mengenangaben oder andere Erläuterungen. Knieküchle zum Beispiel, das ist ein Schmalzgebäck aus Franken. Das kommt daher, dass der Teig früher irgendwie über die Knie geformt wurde. Heutzutage verwendet man dazu einen Küchenpilz. Ich wusste nicht einmal, dass es sowas gibt.


„Auf die Frage, wie lange dieses oder jenes jetzt noch kochen muss, gab es die Antwort: Bis es fertig ist.“

Du sagst, die Damen und Herren haben intuitiv gekocht. Wie meinst du das?
Wie sie es von ihrer Oma gelernt haben. Also wieder von einer vorherigen Generation. Niemand hat da das Wort Rezept in den Mund genommen. Weil sie nie nach Rezept gekocht haben, sie haben einfach gekocht. Auf die Frage, wie lange dieses oder jenes jetzt noch kochen muss, gab es die Antwort: Bis es fertig ist. Sie konnten es nicht übersetzen in ein Zeitmaß, sie hatten das im Gefühl. Andreas hat das auch im Gefühl, aber er konnte für uns das Gefühl in Zeit übersetzen. Im Buch ist es so, dass du alles zuhause gut kochen kannst. Es ist alles auch noch einmal nachgekocht worden und die Rezeptfotos wurden im Studio geschossen. Die Küchentauglichkeit ist also praktisch bewiesen worden.

Nützt es dem Image der Residenzen, wenn ihr in diesen Einrichtungen aufschlagt?
Das würden wir uns sehr wünschen. In jedem Fall ist es unsere Hoffnung, dass sich da regelmäßige Kochgruppen bilden. In einigen Einrichtungen ist das der Fall. In Hannover zum Beispiel, wo wir auch den Trailer gedreht haben. Dort gibt es regelmäßige Kochevents mit ihren Senioren. Da ist es gelebte Praxis. Da merkt man auch im ganzen Haus, was es für eine tolle Stimmung ist, wenn die Küchen und die Senioren im Austausch sind. Es ist Best Practice zu zeigen, dass es nicht die fancy Küche sein muss, sondern dass schon eine Person reicht, die sich dem annimmt und eine Kochgruppe leitet oder moderiert. Deine Frage war, ob das imagefördernd ist. Auf jeden Fall. Weil glückliche Senioren die beste Werbung sind.


Vom Einfachen das Gute
Invalidenstraße 155, Mitte, Tel. 030 28 86 48 49, www.vomeinfachendasgute.com


Unser kulinarisches Erbe

Unser kulinarisches Erbe
Lieblingsrezepte der Generation unserer Großeltern
von Jörg Reuter und Manuela Rehn,
mit Fotos von Caro Hoene und Joerg Lehmann,
Becker Joest Volk Verlag,
320 Seiten, 29,95 €,
www.unserkulinarischeserbe.com