Fotos: Pia Negri / HiPi Aufmacher Renate Künast
Renate Künast

„Wie kriegt man Stadt und Land zueinander?“

Sie ist streitbar, hat viel bewegt als Ministerin, war eine Zeit lang Bundesvorsitzende der Bündnisgrünen. Renate Künast ist aber auch Genuss­mensch und weiß gutes Essen zu schätzen. Sie ist einer der klügsten Köpfe und besitzt ein profundes Wissen, wenn es um Ernährung geht

Interview: Eva-Maria Hilker • Fotos: Pia Negri

Frau Künast, Sie waren von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Eigentlich haben wir es Ihnen zu verdanken, dass wir jetzt unbedenklich Rindfleisch konsumieren und einen Beef-Hype haben.
Renate Künast:
Wir haben nach wissenschaftlichen Maßstäben die nötigen Maßnahmen ergriffen. Wir haben das Rind umzingelt, sind einmal drum herum gegangen und haben geschaut, was zu tun ist. Das fing an mit Maßnahmen im Bereich Futtermittel – falls von da Infektionen kommen. Wir haben eine kleine Rinderherde auf der Insel Riems infiziert, um Forschung intensiver zu betreiben. Wir haben die Schlachtregeln und die Kontrollen verändert. Als das implementiert war, einschließlich der BSE-Tests vor der Vermarktung, ab da konnten wir sagen, jetzt haben wir getan, was laut internationalen Wissenschaftlern die notwendigen Maßnahmen waren, jetzt kann man das essen.

Ernährungswissenschaftlich soll man ja nicht so viel rotes Fleisch essen.
Stimmt! Aber mal ganz ehrlich – gutes Fleisch aus guter Haltung und Fütterung schmeckt halt auch gut. Wenn man dann noch einen Koch oder eine Köchin hat, die das kann … Aber kurz noch mal zum Beef-Hype, zu Craft Beef oder die Metzgerei Kumpel & Keule in der Markthalle Neun. Das ist eine andere Esskultur, da geht es nicht um jeden Tag Rinderbraten mit Tütensauce, sondern es geht tatsächlich um die Qualität des Produktes.

Hat die Fleischer-Innung eine Entwicklung verschlafen? Denn die sogenannten Kumpels sind ja zum Teil Quereinsteiger.
Neulich haben Auszubildende und Metzger sich den Stand von Kumpel & Keule angeguckt und waren beeindruckt. Es passiert auch hier ein Lerneffekt, und es findet die Wertschätzung des Menschen für ein Stück Fleisch statt – der gesamte Prozess dahinter, der Umgang mit den Tieren kommt ins Blickfeld. Es reicht heute und in Zukunft eben nicht, Berge von geschnittener Wurst aufzubauen, die rosa gefärbt ist und ansprechend aussehen soll. Heute machen sich die Menschen Gedanken über die Qualität.

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In den letzten Jahren hat sich das Bewusst­sein, was die Qualität von Lebens­mitteln angeht, sehr verändert. Ist das über die negativen Schlagzeilen und Betrug am Konsumenten entstanden?
Es fing mit der BSE-Krise an und ging mit der Tiefkühl­lasagne weiter. Da war Pferd drin. Und der Käufer hat angeblich Rind gekauft. Dann die ganzen Futterfragen mit Antibiotika, mit den Arzneimittel­rückständen, Bilder aus Ställen, wo in Hühner- und Putenställen die Tiere vor Hitze kollabiert sind, weil der Computer dem Eigentümer keine SMS geschickt hat, es also keine Meldung gab, dass da etwas nicht stimmt im Stall. Irgendwann waren und sind viele Leute angewidert und haben nach Möglichkeiten gesucht, wie sie das ändern können.

Mittlerweile existiert also ein neues Quali­täts­bewusst­sein?
Nicht nur Medikamente bewirken etwas im Körper, sondern eben auch die Lebens­mittel, die den Körper ernähren. Und ob ich jetzt eine Tablette esse oder eine Wurst oder einen Apfel – das alles wirkt in meinem Körper und der nimmt sich daraus Nährstoffe, aber eben auch schlechte Nährstoffe. Ein ganz wichtiger Punkt ist die Diskussion, die wir öffentlich geführt haben, über die Werte und Ziele unserer Ernährung. Ich sage immer: Erhalten durch Aufessen. Alte Rassen und alte Sorten zu erhalten funktioniert, indem ich sie kaufe und aufesse. Der Produzent, der die Rasse und Sorte erhält, muss da auch einen gewissen Gewinn machen können. Mit Messer und Gabel Umweltpolitik und Gesundheitspolitik machen. Und wenn wir nicht mehr viel Fläche haben, die wir noch zu Naturschutzgebieten machen können, dann machen wir eben die Äcker zu Schutzgebieten für Vielfalt.

Eine neue Generation ist im Aufbruch. Quereinsteiger mischen die Food-Szene auf. Sie verstehen Nahrung und Lebensmittel­produktion als gesellschafts­politisches Problem. Stichworte wie Nachhaltigkeit, Regionalität und Bio – so viel gesunde Ernährung, so viel Bedarf an Bio-Produkten. Wo soll das alles herkommen?
Tragisch ist, dass wir das nicht alles bei uns produzieren. Das liegt aber daran, dass in den letzten 10 bis 15 Jahren auf Länderebene die Diskussion um Prämien für Bio und die Umstellung immer hin und her ging. Das hat verunsichert. Die Bio-Branche hat zudem Probleme mit den steigenden Bodenpreisen. Das ist ein Riesen-Druck und trotzdem entwickelt sich das nach und nach weiter. Die Fläche des Bio-Anbaus ist in Deutschland nur um drei Prozent gestiegen. Der Konsum, also der Umsatz aber um elf Prozent. In Tschechien haben die Leute das schnell gemerkt und bieten Waren für Bio-Ketten in Deutschland an.

Auch China hat begriffen, dass mit Bio Geschäfte zu machen sind. Auch sie müssen ihre Produktionsprozesse ohne chemisch-synthetische Mittel und ohne Gentechnik gestalten. Das ist doch ein guter Beitrag zur Umwelt. Jedes Mal, wenn eine Fläche – ob in China oder wo auch immer auf der Welt – ökologisch bewirtschaftet wird, ist das ein Gewinn. Übrigens auch ein Gewinn fürs Klima. Da die chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmittel, Herbizide und Insektizide extrem energieintensiv hergestellt werden.

Andererseits, mal ganz ketzerisch gesagt, ist es ja ganz schön, wenn China jetzt ein bisschen auf Bio macht. Die Waren müssen aber mit dem Flieger oder dem Schiff hierherkommen. Ist das noch umweltschonend?
Stimmt und stimmt wieder nicht.

Es stimmt, weil es natürlich für eine gute Ernährung wichtig ist, sich darum zu bemühen, sich regional und saisonal zu versorgen. Deshalb ist es auch wichtig, sich mit Food Waste zu beschäftigen. Und es ist ja auch toll, dass es hier Brandenburger Bauernmärkte gibt, damals hieß das noch Agenda 21. Da ging es um die Food Miles, wie man heutzutage sagt. Deshalb hat eine Birne, die hier auf Ribbeck gewachsen ist, eine bessere Transportbilanz als eine aus Argentinien.

Das Ganze verändert sich wieder, wenn die argentinische Birne ökologisch hergestellt wurde und die aus Deutschland konventionell. Weil dann der Chemieeinsatz in der Ökobilanz mit eingerechnet werden muss. Aber eines ist klar: Selbst wenn Menschen Dinge kaufen, die viele Kilometer zurückgelegt haben, bis sie bei uns sind, ist das Ökoprodukt dem konventionellen immer noch vorzuziehen. Auch Zwerge haben klein angefangen. Ich finde es schon mal gut, dass wir auf Bio achten und somit Chemie und Gentechnik verhindern, dass Bioprodukte erkennbar sind. Natürlich ist Regionalität gut und wichtig. Deswegen finden Sie in ganz vielen Bioläden immer die Papiertüten, wo draufsteht: Regional ist erste Wahl. Die gehobene Küche, die Qualität der Speisen, wie definiert die sich heute? Doch nicht nach den Sternen, wo der Koch meint, ganzjährig alles anzubieten. Auch die Gourmet-Köche setzen sich mit Regionalität und Saisonalität auseinander und versuchen, die Anteile zu erhöhen.

Es finden sich in Berlin bereits ein paar Beispiele wie Einsunternull oder Nobelhart & Schmutzig, bekannt durch ihren Slogan brutal regional.
Das Ziel ist, die regionalen Hersteller und Anbieter zusammenzubekommen. Wie kriegt man Stadt und Land zueinander? In den Städten lebt mittlerweile die Hälfte der Weltbevölkerung. Wie die sich ernähren und wie ihre große Gemeinschaftsverpflegung aussieht, bestimmt, wie der Rest der Welt aussieht. Und in den Städten existiert ein wachsendes Bewusstsein, sich nicht der Agrarindustrie unterzuordnen.

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Alles schön und gut, das sind noch Einzelfälle. Es werden immer noch Küken geschreddert …
Es wird besser. Aber beim Schreddern sieht man, dass wir da noch einen Weg vor uns haben. Der Minister möchte zwar, dass man das schon am befruchteten Ei erkennt, welches Geschlecht das Tier hat und dann das rausnimmt. Aber das ist technisch teuer. Ob sich das auch kleine Betriebe leisten können, ist die große Frage. Ich möchte nicht, dass nur die großen Investoren das schaffen. Ich will, dass es bäuerliche Landwirtschaft gibt. Und für die ist die Alternative das sogenannte Zweinutzungshuhn. Wir leben ja heute davon, dass eine sehr schmale Rasse, die nicht viel Fleisch ansetzt und eine aggressive Grundhaltung hat, immer aktiv Eier legt. Das sind die Legehennen, die bleiben, die männlichen Küken werden geschreddert.

Beim Suppenhuhn oder Brathuhn ist das eine andere Rasse, die möglichst dick wird und Fleisch ansetzt. Früher war das immer das gleiche Huhn, man hatte verschiedene Rassen, vom Bresshuhn bis zum Weißfederhuhn. Da muss man eigentlich wieder hin und das gibt es ja auch schon, das sogenannte Zweinutzungshuhn. Das muss man jetzt weiterentwickeln und weiterzüchten. Das nimmt natürlich mehr Platz und Zeit in Anspruch. Jeder, der in einen Laden geht und sagt: „Ich möchte ein Zweinutzungshuhn“, schafft so seinen Beitrag zur Veränderung. Nur wenn wir es kaufen, wird es diese Rassen und eine andere Politik geben. Also quasi: Erhalten durch Aufessen.

Wie steht es mit dem Mindest­haltbar­keits­datum? Dessen Abschaffung soll ja auch den Anteil der weg­gewor­fenen Lebens­mittel verrin­gern.
Das hörte sich erst mal toll an: Das Mindest­haltbar­keits­datum wird abge­schafft und dann wird alles ganz anders und Berge von Food Waste und Abfall werden vermieden. Wenn man sich das aber genauer anschaut, dann ist der allergrößte Teil dessen, was wir kaufen, sowieso lose Ware – ohne Mindest­haltbarkeits­datum. Auf dem Brot klebt keins drauf, Äpfel, Birnen, Bananen, Blumenkohl, Kartoffeln haben auch keinen Aufkleber mit dem Mindest­haltbarkeits­datum. Offenbar ist das aber der meiste Abfall, der entsteht. Insofern ist es ein Kuriosum vom Minister, so zu tun, als ob die Abschaffung des Mindest­haltbarkeits­datums jetzt die große Veränderung schafft. Es ist zumal kein Datum des Verzehrs, sondern das Mindest­haltbarkeits­datum ist ja ein handelsorientiertes Datum, das sagt: Bis dahin ist es schön. Bis dahin garantieren wir die allerhöchste Qualität. Aber wenn ich mein Müsli in einen Joghurt mache, dann reicht mir die Qualität, auch wenn gestern das Datum abgelaufen ist.

Viel wichtiger ist die Frage: Warum produzieren wir eigentlich so viel Ware. Bei uns in Europa werden solche Mengen Möhren produziert, dass alle, die ein bisschen krumm und schief sind, sofort in die Biogasanlage kommen. Sind wir doof? Wenn einer mal Ausgrabungen macht in ein paar tausend Jahren und sieht, was wir so treiben, dann denken die, wir wären nicht ganz dicht, weil wir das doch eigentlich besser wussten. Und wir subventionieren die Mengen noch. Wir reden immer über Export, als müssten wir zwangsweise die ganze Welt ernähren, anstatt ein bisschen bewusster zu essen und der Welt die Möglichkeit zu geben, sich selber zu ernähren. Wir stehlen deren Land, wir nutzen gutes Ackerland in Afrika, damit wir das ganze Jahr Rosen oder Futtermittel haben. Wir müssen uns selbst verändern, dass wir die Flächen jeweils sinnstiftend nutzen.

Das kann man nicht alles über Nacht ändern, aber wir machen uns auf den Weg.